Die Altstadt von Lindau liegt wirklich auf einer Insel im Bodensee; erst 1922 kamen durch Eingemeindungen die weit ausgedehnten Uferdörfer Reutin, Aeschach, Hoyren usw. dazu. Ursprünglich waren es sogar drei Inseln, die durch Aufschüttungen zusammengefügt wurden. So entstand aus einer Reform das für Lindau typische „Stadtteildenken“, das äußerlich dadurch sichtbar wird, dass man in Lindau zuerst Reutiner, Aeschacher oder Zecher ist, dass man aber auch für jeden Stadtteil eigene Vereine, Turnhallen oder Schulen gründete bzw. unterhielt. Man muss Lindauer sein, um das in der ganzen Tragweite begreifen zu können. Vielleicht ist diese Stadt aus diesem Grunde auch so liebenswert.
Im Wappen führt die Stadt Lindau einen Lindenbaum. Es ist aber fraglich, ob der so mild klingende Name von den Linden herkommt, die in früheren Zeiten, aber auch noch heute, auf der Insel wuchsen; denn er kann genauso gut von dem keltischen „lint“ herrühren. In der Sprache der Kelten, den einstigen Landesherren, hieß „lint“ der Sumpf und deutete auf das Sumpfgelände hin, das zweifellos auch um Lindau vorhanden war. Lindau könnte im Wappen daher auch einen Lintwurm führen.
Ausgesprochen stolz sind die Lindauer auf ihre römische Vergangenheit; denn während anderswo noch die Ureinwohner Wildschweinen in den Wäldern nachwetzten, hatte man hier schon Kultur! Die „Heidenmauer“ am Altstadteingang, ein wuchtiger Turm aus Findlingsquadern gebaut, ist aller Wahrscheinlichkeit nach ein ehemaliger römischer Wachtturm. 1961 wurden in Aeschach, der Gartenstadt Lindaus, auf einem Uferhügel weitere römische Befestigungen gefunden. Nach den Kelten und Römern wurden die Alemannen Herren im Lande, kein Wunder also, dass sich Lindaus Narrenzunft dem Alemannischen Narrenring anschloss.
Um 810 wurde auf der Hauptinsel vom Grafen Adalbert von Rätien ein Kloster für Benediktinerinnen gegründet. Neben diesem Kloster siedelten die Fischer. Diese hatten schon um 800 das älteste Kirchlein der Stadt, die dem Schutzheiligen der Fischer geweihte Peterskirche, errichtet. Allerdings war das zunächst wahrscheinlich ein Holzbau, weil es ja notwendig gewesen wäre, die Steine mit Schiffen auf die Insel zu transportieren. Als die Kirche dann aus Stein gebaut war, wurde sie reichlich ausgeschmückt. Man konnte sogar feststellen, dass die allmählich verblassenden Fresken im Inneren der heutigen Peterskirche zum Teil Hans Holbein dem Älteren (um 1500) zuzuschreiben sind.
1220 wurde Lindau zur Reichsstadt erhoben, woraus sich die Rivalität zwischen Stadt und Kloster ergab. Das klösterliche „Stift“ musste auf die Beherrschung der Insel verzichten, dafür wurde es 1460 eine reichsunmittelbare Fürstabtei, in dem die Töchter der vor- und fürnehmsten Adelsgeschlechter wohnten. Die Komtessen legten aber keine strengen Gelübde ab, sie konnten das Stift jederzeit wieder verlassen, um z. B. zu heiraten. Dazu legten selbst Äbtissinnen ihr Amt nieder.
Die Reichsstadt Lindau wurde durch den Handel groß. Sie lag und liegt ja genau der Rheinmündung in den Bodensee gegenüber. Das Rheintal war aber schon immer eine ganz natürliche Pforte, die den Weg ins Gebirge über günstige Pässe in den Süden öffnete. Die Frachtwagen karrten über Chur und den Splügenpass hinüber nach Mailand. Von dort gingen die Waren in den Orient und andere kamen auf dem gleichen Wege wieder zurück. Ein Beamter der Reichsstadt, der „Lindauer Bote“, führte mit einer Schar wackerer, bewaffneter Reiter die Warenzüge an. Im Schutze dieser Streitkräfte zogen auch viele Reisende über die Alpen, unter ihnen so bedeutende Männer wie 1786 der fürstlich weimarische Kammerpräsident Johann Wolfgang von Goethe, was bewies, dass man sich den Lindauern anvertrauen konnte âEUR“ und kann!
1523 wurde in Lindau zum ersten Mal „lutherisch“ gepredigt, allerdings war Lindau bereits zwei Jahre später „zwinglianisch“. Der Zwinglianismus wurde durch vorarlbergische und graubündische Prediger, die nach Lindau geflüchtet waren, in die alte Reichsstadt Lindau hineingetragen. Es bildete sich dann aber eine lutherisch-zwinglische Mischform heraus. 1530 fand auf Befehl des Rates der Bildersturm statt. Das und vieles andere veranlasste die letzten vier Barfüßermönche, ihr Kloster an den Lindauer Rat zu verkaufen. 1531 trat Lindau dem Schmalkaldischen Bund bei und beteiligte sich 1546 aktiv am Schmalkaldischen Krieg, was der Stadt jedoch nicht bekam; denn 1547 musste sich die Reichsstadt dem Kaiser unterwerfen und 4000 Gulden Strafe zahlen âEUR“ ein Batzen, den die närrische Zunft heute gut gebrauchen könnte!
Der Versuch, alle wichtigen Ämter mit Katholiken zu besetzen, um so den Katholizismus wieder einzuführen, schlug fehl. Im 30jährigen Krieg wurden alle Akten vernichtet, die über die Ablösung der mehr zwinglianischen Kirchenbräuche durch ein reines Luthertum berichtet hatten, da die Stadt wohlberechtigt fürchten musste, den Schutz des Passauer Vertrages sowie des Augsburger Religionsfriedens zu verlieren. Der 30jährige Krieg ging auch an Lindau nicht spurlos vorbei, schossen doch die Schweden mit schwerem Geschütz in die Stadt. Die Reichsstadt Lindau gewährte andererseits den von den Schweden bedrängten Städten am Bodensee aktive und wertvolle Hilfe, so vor allem auch der arg attackierten Reichsstadt Üeberlingen, der nicht nur mit „frischen“ Stadtknechten, sondern auch mit manchem Sack Korn und anderen Lebensmitteln ausgeholfen wurde.
Aus dieser Zeit stammt auch das „Erdmandl“: ein aus Stein gehauenes Hochrelief, das in "Ehrenmännlis Loch" - "einer Höhle in Bösenreutin bei Lindau" gefunden wurde und vermutlich eine Teufelsfigur darstellt, die sich vorzüglich als Fasnachtsfigur geeignet hätte, wenn der Protestantismus nicht so stark in Lindau verwurzelt gewesen wäre.
1802 verlor Lindau die Selbständigkeit als Reichsstadt, und das Damenstift wurde verweltlicht. Lindau kam zum Fürstentum Bretzenheim, dann zu Österreich und 1805 endgültig zu Bayern. Zur Zeit Napoleons spielt der weltberühmte Roman „Der liebe Augustin“ von Horst Wolfram Geißler. Zwar ist der Rahmen des Buches historisch, und das idyllische Häuschen „Zum lieben Augustin“ steht in unmittelbarer Nähe des Hafens, doch ist die Gestalt des Romanhelden âEUR“ der lebenslustige, optimistische Augustin âEUR“ frei erfunden. Wahrscheinlich hätte sich auch, wenn man die Lindauer Mentalität kennt, kein wahrhaft echter Lindauer Bürger als Vorbild dieses lieben Augustin gefunden. Oder etwa doch?
Mit Beginn der Industrialisierung im letzten Jahrhundert blühte die Stadt noch einmal auf. Der Handel und ein ungeahnter Getreide-Boom halfen zwischen 1854 und 1900 die Stadtkasse und die privaten Geldschränke zu füllen. Lindau wurde ein Hauptumschlagplatz für vorwiegend ungarisches Getreide, das ursprünglich mit Frachtfuhrwerken, ab 1854 mit der Bayerischen Eisenbahn hierher transportiert wurde, um in die Schweiz oder nach Frankreich weitergeleitet zu werden. Was sich hier bald nach der Eröffnung der bayerischen Eisenbahnstrecke an handelspolitischen Entwicklungen abzeichnete, hört sich heute geradezu märchenhaft an. Bereits im ersten Jahr nach der Eisenbahneröffnung brachte Lindau 175 000 Scheffel Getreide zur Ausfuhr, womit nicht weniger als 5,5 Millionen Gulden Einnahmen erzielt werden konnten. Bereits ab 1861 kamen Tag für Tag wenigstens 120 Waggons Getreide an. Fahrbahnen, Schuppen, Verladeeinrichtungen mussten aus dem Boden gestampft werden. Allein zwischen 1865 und 1867 gingen etwa eine Million Zentner Getreide durch Lindau.
Der jährliche Gewinn der Stadt lag bei etwa 40 000 Gulden. 1882 registrierte man sogar 669 000 Doppelzentner ungarischen, russischen und rumänischen Weizens. Der Höchstjahresumsatz belief sich in dieser Zeit auf etwa 19,2 Millionen Mark, nach damaligen Maßstäben eine riesenhafte Summe. Längst waren ein hauptamtlicher Schrannendirektor, eine Schrannen-Ordnung, eine Getreidebörse mit Schiedsgericht in Funktion. Dank eines gesunden Kaufmannsgeistes flossen der Stadt jährlich gut und gern zwischen 60 000 und 80 000 Mark aus dem Erlös des Getreidegeschäftes zu.
1884 wurde die Arlbergbahn-Linie eröffnet, mit dem weitaus kürzeren Schienenweg von Südösterreich nach der Schweiz. Damit begann der Anfang vom Ende der Herrlichkeit, denn Lindau verlor seine Bedeutung als Umschlagplatz. Zwar brachte um die Jahrhundertwende die Zufuhr von bayerischem Hafer den städtischen Schrannenbetrieben noch einmal einen bescheidenen Aufschwung. 1933 war aber die Stadt gezwungen, den Lagerhausbetrieb endgültig aufzugeben.
An Stelle des Güterumschlages trat nun der Fremdenverkehr. Jährlich wurden in guten Zeiten 500000 und mehr Üebernachtungen in den Lindauer Hotels, Pensionen und Privatzimmern und auf dem Zeltplatz erreicht. Neben den Erholungsreisenden kommen jährlich Zehntausende als Besucher von Tagungen und Kongressen. Seit 1950 wird alljährlich die Lindauer Psychotherapiewoche âEUR“ eine internationale Fortbildungsveranstaltung für Ärzte âEUR“ abgehalten; seit 1951 die Tagung der Nobelpreisträger, von der Spötter behaupten, sie sei eine „noble Preisträgertagung“. Immerhin wurde Lindau gerade durch diese Tagung in allen Weltteilen berühmt, berichten doch Jahr für Jahr darüber nicht nur Zeitungen und Zeitschriften, sondern auch die internationalen Rundfunk- und Fernsehstationen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Stadt und der Landkreis Lindau ein selbständiger Zwergstaat mit einem eigenen „Landesvater“, dem Kreispräsidenten, und eigenem Staatshaushalt. Dies hatte sich rein zufällig durch die Grenzen der Besatzungszonen ergeben. Der Landkreis mit der Stadt Lindau wurde von französischen Truppen besetzt, während das übrige Bayern von amerikanischen Truppen überrannt wurde. Damals, unter dem Kreispräsidium, brachen noch einmal goldene Zeiten für Lindau an. Allerdings will man heute davon nicht mehr allzu viel wissen bzw. man flüstert darüber nur noch hinter der vorgehaltenen Hand. So schnell ändern sich eben die Zeiten.
Welche Möglichkeiten für Lindau offen standen, soll aber daran erkennbar werden, dass es sich bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland staats- und völkerrechtlich hätte durchaus für souverän erklären und einen kleinen Staat nach monegassischem oder liechtensteinischen Vorbild hätte gründen können. Die Väter des Grundgesetzes vergaßen nämlich âEUR“ aus Unkenntnis oder weil Lindau wohl noch keine Nobelpreisträger-Tagungen hatte und daher noch nicht so weltberühmt war âEUR“ bei der Aufzählung der nach dem Zweiten Weltkrieg bestehenden deutschen Länder in der Präambel des Grundgesetzes ausgerechnet das „Land Lindau“. Es spricht für die Bürger dieses Kreises, dass damals die Gründung des neuen Staates „Lindau“ unterblieb. Sie haben aber andererseits die Chance ihres Lebens, in den Blickpunkt der Weltpolitik zu geraten, auf alle Zeiten vertan.
Ob hier das „Inseldenken“ der Lindauer zu spät gezündet hat? Oder ob es das damals offensichtliche Fehlen einer fundierten Narrenzunft in der Inselstadt ausgemacht hat, die auf diese einzigartige Möglichkeit sicher hingewiesen haben würde, wer weiß es! Hin ist hin âEUR“ und futsch ist futsch, grämt Euch nicht, s‘ hat keinen Sinn, muss man hier denken. Und nicht nur bei dieser einzigartigen Möglichkeit, sondern auch bei der Rückkehr Lindaus in den Schoß des Freistaates Bayern, am 1. September 1955, wo man âEUR“ statt mit Schulden über Schulden, dafür aber mit allen nur erdenklich-möglichen Fremdenverkehrseinrichtungen, z. B. einem würdigen Ersatz der altehrwürdigen Sängerhalle, dem Lindauer Denkmal des ewigen Provisoriums, ausgestattet - sich mit vollem Säckel unter die Pranke des bayerischen Löwen zurückbegab!
Seit diesem Tag wacht der bayerische Löwe wieder zu Recht an der Lindauer Hafeneinfahrt, und ob der eingebrachten finanziellen Morgengaben soll sogar seit jenen Tagen ein leicht hämisches Grinsen auf seinen Gesichtszügen liegen!
Der 1. Juli 1972 ist das letzte große historische Datum in der reichen, bewegten Geschichte dieser so liebenswerten Stadt: Der Kreisreform fiel die alte Kreisfreiheit zum Opfer! Der Landkreis Lindau konnte nur durch die Verschmelzung der kreisfreien Stadt Lindau mit dem alten Landkreis Lindau erhalten werden. Und damit hat die letzte alte Freiheit Lindaus ein Ende gefunden. Nur in der Fasnacht, vom Gumpigen Donnerstag bis zum Aschermittwoch, lebt die alte Freiheit wieder auf, um so die große geschichtliche Tradition unserer Stadt wenigstens in der närrischen Zeit zu wahren und zu pflegen.
Vieles gäbe es noch zu berichten, mehr oder weniger Wissenswertes! Wir wollten unsere Stadt nur in ganz groben Zügen, lückenhaft und ein wenig mit närrischem Spott versehen, vorstellen; denn Selbsterkenntnis ist ja bekanntlich immer der erste Weg zur Besserung.
Sie, liebe Gäste, die Sie einem Ereignis beiwohnen, das sicher auch in die Geschichte unserer Stadt eingehen wird, befinden sich jedenfalls in Lindau in bester Gesellschaft: Weltpolitiker, Dichter, Wissenschaftler, Nobelpreisträger der ganzen Welt, Künstler, Schauspieler und „Schaustellerinnen“, Kurgäste, Gammler, um nur ein paar Gattungen der Spezies Mensch anzusprechen, weilten schon in Lindau! Und jetzt also Narren. Narren oder solche, die sich dafür halten. Echte, verschämte, offene, verbrämte, heimliche, zeitweilige, ganzjährige, unverbesserliche, brauchtumsbewusste, -unbewusste, verschmitzte, hinterfotzige, listige, ehrliche und sonstige Narren! Der Reigen schließt sich also, denn bei den „Narreteidungen“, beim „Mummenschanz“ beginnt vielleicht die wahre Menschlichkeit.
Die Einheimischen mögen mir diesen prosaischen Erguss verzeihen; sie wissen ja alles noch viel besser als der unwürdige Schreiberling dieses närrischen Epos! Ob sie aber ihre Stadt so lieben wie er, das mag doch dahingestellt sein; denn es zeigt sich immer wieder, auch das ist so eine Eigenheit dieser wunderschönen Stadt, dass „Zuagroaste“, „Nei- oder Reigschmeckte“ sich ihr mehr und inniger verbunden fühlen als die Insulaner, von den Aeschachern, Reutinern, Zechern, um nur einige zu nennen, ganz zu schweigen. Liegt darin wohl das so schwer verständliche Geheimnis dieser schönsten Stadt im Bodensee?
Literaturnachweis: Bäckert, Horst (1973), Die Lindauer Fasnacht – Festschrift zum großen Narrensprung, 1. Auflage, Herausgegeben von der Narrenzunft Lindau (B) e.V., Seiten 15-22